Einleitung

Gegenwärtig wird das soziale Deutungsmuster der conditio humana dominiert durch die Begabungsvorstellung, d.h. der Vorstellung, daß Begabungen i.S. angeborener Fähigkeiten unter den Menschen deutlich ungleich verteilt sind, und daß Begabungen Voraussetzung sind für die Entwicklung von gesellschaftlich bedeutsamen Fertigkeiten. Der Begabungsvorstellung steht die ursprüngliche sozialisationstheoretische Perspektive gegenüber, nach der Fähigkeiten nicht deutlich ungleich unter den Menschen verteilt sind. Beide Auffassungen schließen sich gegenseitig aus, da die Annahme, individuelle Fertigkeitsentwicklung sei sowohl durch Anlage, als auch durch Umwelt bestimmt, lediglich eine Mimesis der Begabungsvorstellung darstellt, unter der die Grenzen der Räume möglicher individuller Entwicklung durch Anlagen bestimmt sind.

Für beide Auffassungen, die Begabungsvorstellung und die ursprüngliche sozialisationstheoretische Perspektive, gibt es wissenschaftliche Belege; Arbeiten, welche die Begabungsvorstellung stützen, entstammen übergewichtig den Naturwissenschaften, Arbeiten, welche die ursprüngliche sozialisationstheoretische Perspektive stützen, übergewichtig den Sozialwissenschaften.

In der vorliegenden Arbeit soll nicht die Frage der Wahrheit von Begabungsvorstellung und ursprünglicher sozialisationstheoretischer Perspektive geklärt werden, sondern die gesellschaftlichen Konsequenzen beider Anschauungen untersucht, und damit Gefahren und Perspektiven des gegenwärtigen Stands sozialer Deutung des Menschen deutlich gemacht werden.

Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Begabungsbegriffe. Im zweiten Kapitel wird die soziologische Relevanz der Begabungsvorstellung erläutert. Dabei wird deutlich, daß die Begabungsvorstellung als andere Seite der Begabungsmedaille die Unfähigkeitsvorstellung beinhaltet, die über die Fiktion menschlich - defizitärer Unfähigkeit in die Bereitschaft orientiert, individuelle Entwicklung von Fertigkeiten nicht autonom und souverän zu bestimmen, sondern in ein von der Begabungsvorstellung mitbestimmtes soziales Rollen- bzw. Normen- und Wertesystem einzupassen. Des weiteren wird erläutert, daß Begabungs- und Unfähigkeitsvorstellung eine Tradierung tief im christlichen Denken wurzelnder Anschauungen darstellt.

Zum Abschluß des Kapitels wird verdeutlicht, daß Begabungsvorstellungen kulturspezifische Phänomene sind, weshalb die Analyse von Begabungsvorstellungen in den Aufgabenbereich der Soziologie fällt.

Mit dem dritten Kapitel wird ein detaillierter Abriß der Geschichte der biologisch begründeten Begabungsvorstellung vorgelegt. Dabei wird die Kontinuität der Ansichten, die der Begabungsvorstellung zugrundeliegenden, sowie die Kontinuität der aus diesen Ansichten gezogenen Schlußfolgerungen bis in die Gegenwart hinein deutlich; in diesem Zusammenhang verblüfft v.a. die Ähnlichkeit zwischen nationalsozialistischem und dem derzeitig gebräuchlichen begabungstheoretischen Vokabular. Die ursprüngliche sozialisationstheoretische Perspektive gewann v.a. in den 60er und 70er Jahren vorübergehend an Bedeutung, seit den 80er Jahren jedoch nimmt die Dominanz der Begabungsvorstellung im Bereich sozialer Deutung des Menschen deutlich und kontinuierlich zu. Für die jüngere Vergangenheit wird herausgearbeitet, wie die Begabungsvorstellung der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit nicht nur zwischen sozialen Schichten, sondern auch zwischen Männern und Frauen, sowie (v.a. im anglo-amerikanischen Raum) zwischen unterschiedlichen Rassen dient. Gegenwärtig erhält die Begabungsvorstellung argumentativ starke Induktion durch die Genwissenschaft, wobei eine Immunisierung bestehenden sozialer Systematik gegen Kritik durch eine Verlagerung von Problemen mit sozialen Bezügen in die Natur des einzelnen Menschen zu beobachten ist.

Im vierten Kapitel werden Argumente für das Vertreten der ursprünglichen sozialisationstheoretischen Perspektive aus neurophysiolgischer (i.e. naturwissenschaftlicher) Sicht geliefert. Dabei wird deutlich, daß die Begabungsvorstellung nicht mit Befunden hirnphysiologischer Forschung vereinbar ist, die zeigen, daß die Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns auch im Hinblick auf hochdifferenzierte Fertigkeiten interindividuell nicht deutlich ungleich verteilt ist.

Im letzten Kapitel werden Perspektiven eines gesellschaftlichen Umdenkens von der Begabungsvorstellung zur ursprünglichen sozialisationstheoretischen Perspektive, bzw. soziale Gefahren der gesellschaftlichen Aufrechterhaltung oder gar Konsolidierung der Begabungsvorstellung diskutiert. Es wird die Auffassung vertreten, daß ein Umdenken zu einer deutlichen Abnahme rechtsextremistischer Orientierungen, zu einer deutlichen Abnahme von Krankheit, und zu beträchtlichen volkswirtschaftlichen Vorteilen im internationalen Wettbewerb der Technologienationen führt.